»Wir haben alles probiert« (2024)

  • X.com
  • Facebook
  • E-Mail
  • Messenger
  • WhatsApp
  • E-Mail
  • Messenger
  • WhatsApp

Der Anblick lebensbedrohlich Erkrankter war für Kazuhiko Maekawa, 60, Routine. Täglich bekam der bekannte japanische Unfallmediziner Schwerstverletzte in die Uniklinik Tokio eingeliefert. Gerade in scheinbar aussichtslosen Fällen konnte er sein Können unter Beweis stellen: »Nie verlor ich die Hoffnung auf Heilung.«

Doch dann ereignete sich etwas, das die Welt erschreckte und das dem Medizinprofessor in brutaler Weise die Grenzen ärztlichen Handelns lehrte: der Unfall von Tokaimura, die größte Katastrophe der japanischen Atomwirtschaft.

Fast zwei Jahre nach dem Desaster wühlt jetzt ein Gerichtsprozess die Erinnerung der Japaner wieder auf: Sechs Angestellte der Uran-Verarbeitungsanlage JCO müssen sich wegen Fahrlässigkeit für den Unfall verantworten, an dem zwei ihrer Kollegen später qualvoll starben. Über den Todeskampf der Strahlenopfer berichtet der Arzt Maekawa nun mit einer für die Japaner schockierenden Offenheit.

Am Unglückstag, dem 30. September 1999, sah er seinen künftigen Patienten Hisashi Ouchi, 35, erstmals im Fernsehen. Die Szene ähnelte einem Science-Fiction-Film: In Plastikfolie verpackt, wurde der Verletzte von Sanitätern - einige trugen Schutzkleidung und Atemmasken - in eine Klinik verfrachtet. Ouchi hatte binnen Minuten etwa 8000-mal so viel radioaktive Strahlung abbekommen, wie normale Menschen in einem Jahr.

Bei JCO hatten Ouchi und sein Kollege Masato Shinohara, 40, Uranoxid per Hand in einen Behälter gefüllt. Darüber, dass diese Form des Umgangs mit dem brisanten Material nicht nur illegal, sondern auch äußerst gefährlich ist, waren sie von ihren Vorgesetzten nie aufgeklärt worden; das schlimmste Nuklear-Desaster seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl traf sie gänzlich unvorbereitet.

Eine explosionsartig anschwellende Lawine von Spaltneutronen mündete in eine unkontrollierte Kettenreaktion - die Arbeiter nahmen sie als blauen Blitz wahr -, die erst nach etwa 20 Stunden gebändigt werden konnte. Insgesamt wurden in Tokaimura 439 Arbeiter, Helfer und Anwohner mit Gamma- und Neutronenstrahlen verstrahlt. Über 300 000 Einwohner durften ihre Wohnungen nicht verlassen.

Von Nippons Politikern wurde die Katastrophe schnell verdrängt. Für Maekawa hingegen begann damals das Ringen um das Leben des Strahlenopfers Ouchi. Es war ein Kampf, wie er mit dieser Besessenheit und diesem Hightech-Aufwand in der Geschichte der Atommedizin bisher kaum geführt wurde. »Und es war ein Kampf«, sagt Maekawa heute, »den wir unmöglich gewinnen konnten.«

Drei Tage nach dem Unglück wurde Ouchi nach Tokio verlegt, auf die modernste Intensivstation des Landes. Der Professor und sein Team staunten erst einmal: Der nuklear Verstrahlte sah, ganz anders als die üblichen Unfallpatienten, ungewöhnlich gesund aus. Seine Haut war zwar gerötet - als habe er zu lange in der Sonne gelegen. Aber Ouchi war bei Bewusstsein und scherzte. Nur seine rechte Hand, mit der er einen Uran-Trichter gehalten hatte, war geschwollen.

Tatsächlich glich der Körper des Strahlenpatienten nur noch einem Haus, hinter dessen schmucker Fassade sich ein unrettbar verrottetes Gemäuer verbirgt. Als die Ärzte Ouchis Zellen im Mikroskop untersuchten, trauten sie ihren Augen kaum: Die Chromosomen, die sich sonst säuberlich nummerieren lassen, waren teils chaotisch zerhackt, teils willkürlich verschmolzen.

Die Zahl der weißen Blutkörperchen, die Menschen vor Bakterien und Viren schützen sollen, war bei Ouchi auf ein Zehntel des normalen Werts gesunken. Um ihn vor Infektionen zu schützen, musste er in einen keimfreien Raum verlegt werden. Gleichzeitig entschlossen sich die Ärzte zu einer Behandlung, wie sie noch bei keinem Atomopfer geglückt war: Sie übertrugen Ouchi Blutstammzellen seiner Schwester.

Etwa zehn Tage nach dem Unfall atmeten die Ärzte auf: Ouchis Blut hatte die Zellen der Schwester angenommen; seine weißen Blutkörperchen vermehrten sich jetzt wieder auf Normalmaß. Der Erfolg der Hightech-Therapie ließ Maekawa auf ein Wunder hoffen: »Ich meinte, wir müssten unbedingt weitermachen.«

Für Zweifel am Sinn ihrer Rettungsaktion fehlte den Ärzten ohnehin die Zeit. Bis zu 16 Stunden täglich im Einsatz, handelten sie wie Gehetzte. Immer wieder wurden sie von neuen Symptomen der tückischen Gamma- und Neutronenverstrahlung überrascht.

Schon bald nach der Stammzellentherapie zerfiel die DNS in den Spenderzellen. Die Ärzte rätselten, ohne eine Antwort zu finden: Zerstörte die Strahlung in Ouchis Körper die Chromosomen seiner Schwester?

Überall zeigte sich nun der Verfall des Patienten: Bereits eine Woche nach dem Unfall ließen sich die Klebebänder, mit denen Kanülen und Drähte am Körper befestigt wurden, nicht mehr ablösen. In Fetzen blieb Ouchis Haut daran hängen. Anders als bei Gesunden, deren Gewebe sich durch Zellteilung ständig erneuert, produzierte seine Haut keine neuen Zellen mehr und fiel deshalb ab. Aus offenen Wunden sickerte Blut und Sekret.

Stunden brachte das Team jetzt täglich damit zu, Ouchis offene Stellen notdürftig mit Gaze abzudecken. Um seine Qualen zu lindern, habe man ihm schmerzstillende Medikamente in »astronomischer Menge« verabreicht, berichtet Maekawa: »Ouchi bekam am Tag so viel Schmerzmittel, wie wir sonst bei 14 Operationen verbrauchen.«

Ouchis geschwollene rechte Hand verkümmerte unterdessen zu einem blutig rohen Fleischklumpen. Um den starken Flüssigkeitsverlust zu bremsen, verpflanzten die Ärzte Ouchi künstlich gezüchtete Haut - vergeblich: Die teure Laborhaut wuchs nicht an.

»Wir haben alles ausprobiert, was uns richtig erschien«, sagt Maekawa. Denn bei der Behandlung der speziellen Schäden durch die Gamma- und Neutronenstrahlen nützten den Ärzten die Lehrbücher wenig. Auch vier Strahlenmediziner, die Japan eigens aus Deutschland, den USA, Russland und Frankreich einfliegen ließ, wussten keinen Rat. Der Russe, seit Tschernobyl an schlimme Anblicke gewöhnt, gab dem Patienten keine 14 Tage mehr - tatsächlich hielten die japanischen Ärzte Ouchi 83 Tage am Leben, seinen verstrahlten Kollegen Shinohara sogar 211 Tage.

Der Todeskampf Shinoharas, den Maekawa später ebenfalls behandelte, zeigt, wie unterschiedlich Strahlenerkrankungen verlaufen können. Bei Shinohara, der eine halb so hohe Strahlendosis abbekommen hatte wie sein Kollege Ouchi, verhärtete sich die Haut »wie ein Schnürpanzer«, sagt Maekawa. »So hohl klang es«, erzählt der Arzt und klopft dabei mit dem Knöchel auf den Tisch.

Der Krankheitsverlauf von Ouchi war der dramatischere. Schon nach etwa zehn Tagen musste er künstlich beatmet werden, denn in seiner Lunge staute sich Wasser. Der Patient verkam immer mehr zu einer Masse, die nur mit Hilfe von Maschinen überlebte.

Zwar vermochten die Ärzte das Siechtum ihres Patienten nicht aufzuhalten. Aber sie konnten mit hochmodernem Diagnose-Gerät jedes Stadium so lückenlos dokumentieren wie nie zuvor bei einem Strahlenopfer. »Wir haben alle Befunde digitalisiert«, sagt Maekawa mit dem Stolz des Wissenschaftlers. So existiert der Verstorbene jetzt als »wertvolles Lehrbeispiel« (Maekawa) weiter.

Von der einzigartigen Qualität der Dokumentation konnte sich kürzlich ein japanisches Millionenpublikum überzeugen: NHK, der größte Fernsehsender des Landes, sendete schockierend brillante Aufnahmen von Ouchis Darm in die Wohnzimmer. In Zeitlupe konnten die Zuschauer verfolgen, wie sich erst die weißliche, abgestorbene Schleimhaut von der Darmwand löste und dann große Mengen Blut aus dem porösen Organ hervorquollen.

Um den Blutverlust auszugleichen, gaben die Ärzte Ouchi Transfusionen - bis zu zehn Liter an einem halben Tag. Um seinen Körper vom ständigen Druck des eigenen Gewichts zu entlasten, banden sie ihn auf ein Spezialbett, das sich bis zu 55 Grad neigen lässt.

Je mehr Ouchis innere Organe verfielen, desto kräftiger musste sein Herz arbeiten: Mit bis zu 125 Schlägen in der Minute pumpte es am Ende. Am 59. Tag gab das erschöpfte Herz schließlich auf.

Spätestens jetzt hätten die Ärzte sich geschlagen geben können. Doch mit Herzmassagen und -stimulanzien rangen sie um weitere Tage. Dreimal belebten sie Ouchi wieder. Warum muteten die Ärzte dem Todgeweihten diese Prozedur zu? Wollten sie ihn möglichst lange am Leben erhalten, nur um noch viele Daten sammeln zu können?

Maekawa räumt ein: Gewisse Zweifel seien schon aufgekommen am medizinischen Sinn und auch am finanziellen Aufwand der aussichtslosen Behandlung. Aber ein »Experiment«? Diese Vermutung weist der Professor empört zurück: »Wir handelten auf den starken Wunsch von Ouchis Familie - sie wollte ihre Hoffnung nicht aufgeben.«

Ununterbrochen warteten die Angehörigen damals in einem Nebenraum. Nach japanischem Brauch falteten sie unermüdlich Origami-Kraniche - fast zehntausend der papierenen Glücksbringer hatten sie am Ende gefaltet. Verzweifelt flehte Frau Ouchi ihren bewusstlosen Gatten an, wenigstens bis zum Jahrtausendwechsel durchzuhalten.

Doch der Körper des Atomarbeiters war längst nicht mehr überlebensfähig. Sein Gehirn war schon durch den zeitweiligen Herzstillstand dauerhaft geschädigt. Und auch die Zahl der weißen Blutkörperchen fiel nun fast auf null. Schließlich überzeugte Maekawa die Angehörigen, im Falle erneuten Herzversagens auf Wiederbelebungsversuche zu verzichten. Am 21. Dezember 1999 endete Ouchis Todeskampf.

Die Katastrophe von Tokaimura hat Maekawas Alltag gründlich verändert. Im japanischen »Who's Who« wird er nun als »Arzt des Atomopfers Hisashi Ouchi« aufgeführt. Der Mediziner, der in diesem Frühjahr pensioniert wurde, leitet jetzt ein Institut für nukleare Sicherheit in Tokio. Im Auftrag der Regierung soll er ein nationales System zur ärztlichen Versorgung von Strahlenopfern aufbauen. Um den »Mythos von der Sicherheit der Nukleartechnik« (Maekawa) nicht zu gefährden, hatte es die Regierung jahrzehntelang unterlassen, medizinische Notfallpläne für Atomunfälle auszuarbeiten.

Doch Tokaimura hat die zukunftsfixierte Nation tief verunsichert. Der laufende Gerichtsprozess schürt den Widerstand gegen Tokios ehrgeiziges Atomprogramm - 53 Kernkraftwerke liefern heute mehr als ein Drittel des Stroms in Japan.

Dennoch hält die Regierung hartnäckig an ihren Atomplänen fest. Staat und Betreiber müssten sich stärker anstrengen, »um bei der Bevölkerung Verständnis für die Kernenergie zu gewinnen«, fordert Premier Junichiro Koizumi. Seine Regierung will langfristig auch den 1995 verunglückten Schnellen Brüter »Monju« wieder in Betrieb nehmen.

Ausstieg aus der Kernenergie? So weit gehen in Japan selbst die Skeptiker meist nicht. Auch Mediziner Maekawa mutet diese Vorstellung, all seiner schockierenden Erfahrungen zum Trotz, gänzlich unrealistisch an: »Japan kann doch nicht ins 19. Jahrhundert zurückkehren.«

WIELAND WAGNER

»Wir haben alles probiert« (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Madonna Wisozk

Last Updated:

Views: 6394

Rating: 4.8 / 5 (48 voted)

Reviews: 95% of readers found this page helpful

Author information

Name: Madonna Wisozk

Birthday: 2001-02-23

Address: 656 Gerhold Summit, Sidneyberg, FL 78179-2512

Phone: +6742282696652

Job: Customer Banking Liaison

Hobby: Flower arranging, Yo-yoing, Tai chi, Rowing, Macrame, Urban exploration, Knife making

Introduction: My name is Madonna Wisozk, I am a attractive, healthy, thoughtful, faithful, open, vivacious, zany person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.